20. Jahrhundert, Jahrhundertbuch der Gottscheer, Dr. Erich Petschauer, 1980.


Gottscheer Fluggäste

Wir begleiten die Flugwanderer zwischen den beiden so ungleichen Hälften des Gottscheer Völkchens in seinem österreichischen und deutschen Exil weiter und sehen mit ihren Augen auch noch einen anderen Tatbestand: Verständlicherweise haben die älteren Umsiedler nicht in dem Maße an dem ausklingenden Wirtschaftswunder ihrer neuen Heimatländer Anteil wie die Geburtenjahrgänge, die in unserer Gegenwart voll in der Verantwortung stehen, einmal in den ihnen zugefallenen, beruflichen Aufgaben und zum anderen als Ehepartner für das gedeihliche Fortkommen der Familie. Doch auch für sie, die Alten, ist durch Renten und Pensionen, öffentliche Wohnungsbes
chaffung und private Initiativen auf diesem Sektor gesorgt worden. Und sie erfahren, daß um die Weihnachtszeit vom "Gottscheer-Hilfswerk" in Amerika Spenden eintreffen und dorthin gelangen, wo sie als Hilfe angebracht sind.

Jeder, aber auch wirklich jeder der "Amerikaner" steht in seinen Gedanken vor einem anderen Reiseziel. Nicht Paris oder Rom, Rothenburg ob der Tauber und Salzburg oder die Romantische Straße, obwohl auch sehr viele von ihnen ihre Schritte zu diesen Zentren des internationalen Tourismus lenken, das heimliche Reiseziel aller ist vielmehr das Gottscheer-Land bzw. das, was davon übriggeblieben ist. Doch nur ein Teil trifft dort ein. Die anderen zögern, den endgültigen Entschluß zur Fahrt nach Gottschee zu verwirklichen. Sie wollen den goldenen Erinnerungsschatz an das "Ländchen" als Ganzes, das Dorf, ihr Elternhaus, die Nachbarn so bewahren, wie sie ihn daheim jung und emsig aufgehäuft haben. Jene aber, die die Reise in das südliche Slowenien antreten, obwohl sie aus der Zeitung, aus Briefen und Erzählungen wissen, was sie erwartet, nähern sich von Reifnitz her bange und erfüllt von einem Gemisch aus Trauer, doch auch Neugier, der Stadt. Schon nach dem Überschreiten der früheren Sprachinsel-Grenze stellen sie fest: Der Wald erobert sich das "Ländchen" zurück. Die Stadt hat sich sehr stark verändert und bietet nur noch wenige der früher so vertrauten An- und Ausblicke. Die Doppeltürme der Stadtpfarrkirche beherrschen nicht mehr allein weithin das Landschaftsbild und die Stadt, sondern es sind mehrere Betonwohntürme dazugekommen. Sie könnten ebensogut am Rande einer westeuropäischen Kleinstadt stehen, zweckmäßig, modern, doch geschmacklos.

Dafür vermißt der Besucher auf seiner kurzen Wanderschaft durch die Vergangenheit das Schloß der Grafen von Auersperg. Ihm ist zumute, als begegne er einem Denkmal, dem man den Kopf vom Rumpf geschlagen hat. Ein weiteres Stück Vergangenheit wurde beseitigt. Die Stichbahn Laibach-Gottschee, 1893 eröffnet, wurde wegen Unrentabilität aufgelassen. Der Personenverkehr wird auf der modernen, ausgebauten Staatsstraße mit Omnibussen, der Warenverkehr mit Lastwagen abgewickelt. Die beiden noch aus der Ansiedlungszeit stammenden Straßenzüge Gottschee-Obermösel-Graflinden-Unterdeutschau und Gottschee-Hohenegg-Nesseltal-Unterdeutschau dienen nur noch der Holzbringung.

Neu gebaut wurden eine hauptsächlich für den Reise- und Lastenverkehr bestimmte Straße von Gottschee/Stadt in südlicher Richtung nach Fiume (Rijeka), womit der alte Traum von der direkten Verbindung an die Adria in Erfüllung ging, und eine Waldstraße von Gottschee/Stadt in südöstlicher Richtung über den südlichen Ausläufer des Kummerdorfer Berges bis Brunnsee. Das Hinterland ist den Besuchern der früheren Sprachinsel Gottschee nach wie vor verschlossen. Die eigentlichen Gründe für diese Regierungsmaßnahme sind nicht erkennbar. Gleich nach dem Krieg ging das Gerücht, im Raum Göttenitz befänden sich Konzentrationslager. Später behauptete sich hartnäckig die Mär, in der Nähe von Göttenitz seien in achthundert Meter Tiefe Uranlagerstätten gefunden worden, zu denen jedermann der Zutritt verweigert wird. Ebenso sind die Gebiete von Verdreng-Hornberg und seit 1977 auch von Lichtenbach gesperrt.

Man könnte die im "Ländchen" geborenen Gottschee-Fahrer sicher auch als eine Art Heimkehrer bezeichnen, das wäre aber sehr symbolisch, denn das ursprünglich Gegenständliche der Heimat existiert nur noch in der Erinnerung. Lediglich die alten Besiedlungspunkte - wir haben sie wiederholt aufgezählt - und einige größere
Siedlungen haben die Kampfhandlungen zwischen den Partisanen und der italienischen Besatzungstruppe einigermaßen heil überstanden. Die kleineren Dörfer abseits der aufgeführten Verkehrswege sind verschwunden. Die "Heimkehr" sieht in den meisten Fällen so aus: Hat man sich durch eine Wildnis durchgeschlagen und die ungefähre frühere Lage seines Geburtsortes ausgemacht, steht man fassungslos vor nur noch sehr kleinen Hügeln, überwuchert von Brennesseln, Unkraut, Gestrüpp, mächtigen Stauden, fünfundreißig-, dreißig- und zehnjährigen Bäumen, die Hügel-Gräber früherer Bauernhöfe, ehemaliger Elternhäuser. Einige Augenblicke lang schwebt einem plötzlich das Dorf vor, wie es war, die Häuser, die Scheunen, die Obstbäume, der Dorfweiher - doch das Bild ist seltsam leblos, wie eine gemalte Bühnenlandschaft. Die Menschen fehlen darin .. . "Gehen wir?"

Die meisten Kirchen sind Ruinen, die Bergkirchen verfallen. Aus manchem Ort verschwanden die Kirchenmauern und Grabsteine in Kalkbrennöfen. Nur wenige Gotteshäuser überstanden das Chaos, so jene in Mitterdorf und die Stadtpfarrkirche. Darin erinnert ein deutschsprachiges Bibelwort um den Hochaltar heute noch an ihre Erbauer, und die Betbank der Familie Auersperg an der Spitze der linken Bankreihe des Kirchenschiffes ist erhalten geblieben.

In geringer Zahl treffen die Besucher ihrer alten Heimat auch auf ehemalige, slowenische Dorfgenossen. Diese wissen ebensogut wie die älteren Slowenen in der Berührungszone zwischen dem gottscheerisch-deutschen und dem slowenischen Siedlungsgebiet, daß mit den vertriebenen Gottscheern bis in die Krisenjahre vor der Umsiedlung ein gutes Auskommen war. Die Treffen zwischen alten Gottscheern und alten Slowenen verlaufen wie bei guten Bekannten, die sich lange nicht gesehen haben. Fünfunddreißig Jahre danach, ein Beispiel für mehrere: Der in München lebende, aus Nesselthal stammende Schreinermeister Ernst Stalzer berichtete dem Autor von einer solchen Begegnung.

Nach längerem Fragen hin und her in der Gottscheer Mundart, sagte der Slowene unvermittelt:

"Bei sheit'r gagean?" (Warum seid Ihr gegangen?)

Alle Gottscheer bedauern, daß das slowenische Volk von 1941 bis 1945 seitens des kriegführenden deutschen Reiches schwer zu leiden hatte. Die Gottscheer hatten daran keinen Anteil. Die Zeit vermochte manches zu heilen. Auch in Slowenien wurden inzwischen dreißig und mehr Jahrgänge geboren. Auch bei der politischen, das heißt staatlichen Führung der Slowenen ist eine Wandlung gegenüber den Gottscheern eingetreten. Sie dürfen das frühere Gottscheerland ohne Schwierigkeiten betreten und sich darin mit Ausnahme des Hinterlandes und der bereits vorher erwähnten Sperrgebiete frei bewegen. Die Abschirmung dieser Landschaften gilt für alle Fremden. Die Toleranz gegenüber den Gottscheern aber sieht die Regierung in jedem Sommer neu gerechtfertigt, denn sie bringen
keine Unruhe ins Land und sie verhalten sich so, wie es ihnen die eigene Erkenntnis erlaubt: Das Gottscheer-Land ist keine politische Frage mehr.

Wenn daher die letzte, auf seinem Boden geborene Generation außerhalb Jugoslawiens und unpolitisch ihr kulturelles Erbe pflegt und historisch getreu zu bewahren trachtet, so geschieht dies aus den gleichen Beweggründen, wie auch andere Völker und Volksgruppen ihr überliefertes Kulturgut zu erhalten suchen. Das slowenische Volk selbst ist dafür ein beredtes Beispiel. Und wenn dieses Bericht geschrieben wurde, so unter anderem deshalb, damit in der Diskussion über die Geschichte des "Ländchens" auch die Stimme eines Gottscheers für alle seine Landsleute zu Worte kommt und von der menschlich-tragischen Zwangsläufigkeit des Untergangs seiner Heimat kündet.

Wir wissen, daß für das Völkchen im Karst diese Heimat unwiederbringlich verloren ist. Um so mehr interessiert uns schließlich noch, ob und wieweit die Gottscheer in der Republik Österreich und in der Bundesrepublik Deutschland in die staatliche Vermögensentschädigung einbezogen wurden. Erst nach hartem Ringen mit verständlicherweise auf Sparsamkeit bedachten Behörden gelang in der Bundesrepublik die vollständige und in der Republik Österreich die teilweise Einordnung der Gottscheer Flüchtlinge und anderer Entschädigungsberechtigter in die betreffende Gesetzgebung. In der Bundesrepublik gelang es den Gottscheern nach dem Lastenausgleichsgesetz, in den USA, Kanada und Südamerika aber nach dem Reparationsschädengesetz, eine Vermögensentschädigung zu erhalten.

In der Republik Österreich sah der Gesetzgeber davon ab, für die Berechnung und Auszahlung von Kriegsfolgeentschädigung einen eigenen juristischen Komplex zu schaffen. Vielmehr wurde er in das bereits vorhandene Paket der Sozialgesetzgebung eingebaut. Gemessen an den Entschädigungen, die in der Bundesrepublik Deutschland vergütet wurden, kamen die Flüchtlinge in Österreich vergleichsweise sehr schlecht weg. Trotz aller Bemühungen der Gottscheer Landsmannschaften und des Verbandes der Volksdeutschen Landsmannschaften in Österreich, in die sich der "Südostdeutsche Rat" tatkräftig einschaltete, war nicht mehr als eine Entschädigung für die Haushaltseinrichtung und für die Gegenstände der Berufsausübung durchzusetzen. Die österreichische Bundesregierung vermochte mit Hilfe eines durchaus tragfähigen Arguments die Entschädigungsansprüche aus land-und forstwirtschaftlichem Besitz abzulehnen: Österreich war ja nicht kriegführender Staat gewesen und hatte durch die Kriegführung auf seinem Territorium außerdem selbst sehr erhebliche Schäden erlitten.

In der Bundesrepublik wurde auch der Verlust von Betriebsvermögen in den Sparten Handel, Handwerk und Gewerbe zu einem gesetzlich festgelegten Teil entschädigt. Selbstverständlich unterlagen die Gottscheer, wie der gesamte in Frage kommende Personenkreis, dem unumgänglichen, wenn auch umständlichen Prüfungsverfahren, das mit einer Antragstellung begann. Sie verfügten dabei im Verhältnis zu den Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten über den Vorteil, daß ihr in der alten Sprachinsel zurückgelassenes Besitztum aus zwei Gründen überschaubar geblieben war: Einmal wegen der verhältnismäßig geringen Ausdehnung des fraglichen Gebietes und zum anderen, weil die Gottscheer Schätzleute, bzw. Gutachter, für alle erdenklichen Fragen noch verfügbar waren. Sie wurden entsprechend den 1933 in der Sprachinsel geschaffenen Großgemeinden zu Arbeitsgruppen zusammengefaßt, also Altlag, Gottschee-Stadt und -Land (in der Bewertung wurden die beiden Großgemeinden
Gottschee als Einheit behandelt), Rieg, Obermösel, Nesselthal, Tschermoschnitz (Bestandteil des Bezirks Rudolfswerth), Großgemeinde Tschernembl-Land (dazu gehörten die Gemeinde Stockendorf und das Weinbaugebiet von Meierle und Umgebung), und die Großgemeinde Cabar, zu der das Suchener Hochtal zählte. In unzähligen Sitzungen rekonstruierten die Schätzer den früheren Besitzstand der Antragsteller. Die Namen dieser verdienten Männer jedoch durften und dürfen nicht bekanntgegeben werden. - Eine gewiß kluge Maßnahme.

Ein Name muß jedoch in diesem Zusammenhang herausgegriffen werden: Regierungsamtmann Ferdinand Wittine. Wir haben diesen Namen bereits in der Bundesrepublik kennengelernt. Auf ungewöhnlich weiten Umwegen führte ihn das Schicksal an diesen Arbeitsplatz heran, von dem aus er seinen Landsleuten am meisten nützen konnte. Ferdinand Wittine wurde 1906 in Rieg geboren. Mit seiner Ausbildung geriet er in das Ende der äußerst schwierigen Nachfolgezeit des Ersten Weltkrieges. Lassen wir ihn selbst sprechen:

"Im September 1918 trat ich in das achtklassige Gymnasium in Gottschee ein. Der Krieg war kaum zu Ende, da wurde das Obergymnasium (ab der 5. Klasse) aufgelöst, die 1. Klasse aber nur mehr slowenisch geführt. Ich hatte damit das Glück, die letzte deutsch geführte Klasse besuchen zu dürfen. Nach Abschluß der 4. Klasse kam ich ins Staats-Obergymnasium nach Laibach. Hier konnte ein Gottscheer in jener Zeit nur unter größten Schwierigkeiten bestehen." - Ferdl Wittine war dann durch Jahre Amtsleiter der Großgemeinde Rieg. Damit blieb er mit seinen Landsleuten in ständigem Kontakt und konnte dadurch manchen staatlichen Übergriff mildern.

Während und nach dem Krieg war er in mehreren Berufen tätig - wie andere Landsleute auch - und landete nach großen Umwegen 1954 als Sachbearbeiter beim Ministerium für Flüchtlinge und Vertriebene in Stuttgart. Hier konnte er durch zwölf Jahre in der Vermögensfrage der Gottscheer helfend eingreifen. Die Hebung der Hektarsätze an die Wirklichkeit in der verlorenen Heimat war sein besonderes Verdienst. Er verstand es, sich gegen die Unwissenheit in seiner Umgebung durchzusetzen.

Ferdinand Wittine war, wie bereits erwähnt, Mitbegründer der Gottscheer Landsmannschaft in Deutschland und deren eifriger, langjähriger Vorsitzender. Für seine Verdienste wurde er zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Auch ist er Ehrenmitglied der Gottscheer Landsmannschaft in Klagenfurt. Vom deutschen Bundespräsidenten wurde ihm für seine Leistungen das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Die Vermögensrückerstattung an die Gottscheer ist - soweit sie überhaupt beantragt wurde - im großen und ganzen abgeschlossen. Schwierigere Einzelfälle hinken bei der Abfassung des Berichts immer noch nach. Regierungsamtmann Ferdinand Wittine stellte dem Verfasser seine Aufzeichnungen über die Zahl der eingereichten Anträge und die darin angegebene landwirtschaftliche Nutzfläche zur Verfügung, soweit sie über das Lastenausgleichs- und das Reparationsschädengesetz erstattet wurden. Insgesamt sind über den Lastenausgleich 578 und über das Reparationsschädengesetz 953, zusammen 1531 Erstattungsfälle bearbeitet und abgeschlossen worden. Dabei wurden insgesamt rund 26.000 Hektar erfaßt.

Die Erstattungsfälle in Übersee bestanden vielfach in Erbansprüchen. Die auffallend hohe Differenz zwischen den Erstattungsfällen über den Lastenausgleich und das Reparationsschädengesetz und der Gesamtfläche der früheren Sprachinsel von rund
85.000 Hektar (auf etwa 850 Quadratkilometer) läßt sich leichter erklären, als es zunächst den Anschein hat. Vor allem entfallen für die Entschädigung die 34% Weide- und Ödland. Ungefähr die gleiche Bodenfläche bedeckte der Wald. Auf das gesamte Weide- und Ödland bestand kein Anspruch. Von der Waldfläche ist der bereits seit 1930 von Jugoslawien beschlagnahmte Auerspergsche Anteil wegzulassen. Von der Gesamtfläche der ehemaligen Sprachinsel sind weiter die 8% des slowenischen Kleinbesitzes abzuziehen. Außerdem fiel der in seinem Umfang unbekannte Gemeindebesitz an den jugoslawischen Staat. Nicht in die Berechnung fällt auch der in keiner Statistik auftauchende kirchliche Grundbesitz. Für Schätzungen der beiden letztgenannten Areale liegen keinerlei Anhaltspunkte vor. Ferner abzuziehen sind die Bodenansprüche jener Umsiedler, die in Österreich ansässig geworden waren, da - wie gesagt - die Republik Österreich solche Ansprüche nicht gelten ließ. Auch dieser Bereich verschließt sich vollends einer Schätzung. Nicht wenige anspruchsberechtigte Gottscheer in der Bundesrepublik haben, teils aus Unkenntnis, teils aus Furcht vor Scherereien, ihre Ansprüche nicht angemeldet. Das Völkchen der Gottscheer wird also nie erfahren, was sein kleines Heimatland sechshundert Jahre nach der Besiedlung in Mark und Pfennig, Schilling und Groschen, Dollar und Cent wert gewesen ist. Dennoch gebührt den Männern, die viel Zeit und Kraft für diese Ermittlungsarbeiten aufwendeten, der Dank der lebenden Gottscheer.

("Jahrhundertbuch der Gottscheer", Dr. Erich Petschauer, 1980)

www.gottschee.de

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